Vier Regisseure bzw. Choreographen inszenieren und choreographieren ein Tanz- und Theaterstück, das niemand kennt. Im Gepäck haben sie ebenso wie die Darsteller ihre Vorlieben, Lebenshoffnungen, Lieblingsszenen aus Theater und Film und die Themen, die ihnen gerade unter den Nägeln brennen - Liebesgeschichten, kritische Blicke auf den Zustand von Welt und Gesellschaft.

 

Alles ist möglich. Aber erlaubt ist nur das Unerwartete. „Überrasch mich" könnte auch als Motto über dieser kollektiven Collage stehen. Es geht um Wunder in des Wortes vielfältiger Bedeutung.

Titel und Methode sind einem Spiel der Surrealisten entlehnt, „in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorher-gehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann" (André Breton).

Das Spiel seine eigenen Wege finden lassen, den Zufall zu Hilfe nehmen, Gruppenprozesse und deren Kreativität haben den künstlerischen Leiter von COMMEDIA FUTURA, Wolfgang A. Piontek, schon immer interessiert. So ist in jüngster Zeit das Stück „Ein Kuß erzeugt ein unbeschreibliches Geräusch" (2007) entstanden. Und auch an „Himmel und Hölle" (2008) waren mehrere Regisseure und Choreographen beteiligt. „Le Cadavre Exquis/Ein Versuch in Wundern" bringt beide Ansätze zusammen.

Gefördert von: Kulturbüro der Landeshauptstadt Hannover, Land Niedersachsen, Stiftung Niedersachsen, TUI-Stiftung, Meravis, Stadtbezirksrat Südstadt-Bult


Premiere am 30. Okt 2010,
insgesamt 20 Aufführungen zwischen dem 30. Okt 2010 und 26. Feb 2011

Ensemble


Idee/Konzept: Peter Piontek, Wolfgang A. Piontek
Text: Gruppe
Regie/Choreograhie: Minako Seki, David Brückel, Henrik Kaalund, Wolfgang A. Piontek
Regieassistenz: Lukas Wegenast
Dramaturgie: Peter Piontek
Musik: Christof Littmann
Kostüme: Sabine Mech
Bühne: Ramona Rauchbach
Lichtdesign: Wolfgang Denker
Assistenz: Ida Krombach, Bjarne Rühling, Michael Liiv, Andreas Dziuba, Philip Heuer

Hannoversche Allgemeine Zeitung | 03.11.2010
Zwischen Vision und Wirklichkeit
von Julia Osterwald

Mit der Produktion "Le cadavre exquis - Ein Versuch in Wundern" überzeugt Commedia Futura in der Eisfabrik.
 
Zwei Arbeitsmaximen hatten sich die vier Regisseure vorgenommen: ,,über­rasch mich" und "berühr mich". Die Me­thode haben sie den Surrealisten abge­guckt: Jeder für sich, ohne die Arbeit der anderen zu kennen, haben sie eine ge­meinsame Produktion geschaffen: ,,Le cadavre exquis - Ein Versuch in Wun­dern" hatte jetzt in der Eisfabrik Hanno­ver Premiere.
In einem Experiment in fünf Bildern wird spielerisch, aber trotzdem nicht un­ernst hinterfragt, was Menschen von­einander trennt und was sie zueinander hinzieht. Es geht um Hoffnung, Versu­chung, Tod, Glauben, um Verletzung, Entfremdung, Egoismus, Angst und Lie­be. ,,Wir verlassen uns hier auf Wunder", sagt eine der Schauspielerinnen (Elisa­beth Frank) zu Beginn des Stücks, ,,und das ist nicht nur skurril, sondern dreist". Was sich hinter diesem kühnen State­ment verbirgt, wird in den folgenden knapp drei Stunden entfaltet.
An drei sehr unterschiedliche Spielor­te (Bühne: Ramona Rauchbach) führt das Theaterprojekt, das Sprache, Tanz, Gesang und Performance als Ausdrucks­mittel nutzt. Blau, als Farbe und Gefühl, dominiert am Anfang, am Ende ist der Raum grau, elementar, fast nackt. Da­zwischen werden Varianten und Themen von Beziehung durchgespielt - in Sze­nen, die immer dichter werden. Unter­schiedliche, sehr heutige Mittel der Sinn­suche und der Suche nach der wahren Liebe werden zitiert, Speed-Dating bei­spielsweise. Um Gefühle geht es dabei nicht, wie die Inszenierung anschaulich zeigt. Vielmehr wird ein Fragenkatalog abgearbeitet, der mit dem Menschen, der einem gegenüber sitzt, wenig bis gar nichts zu tun hat.
Manchmal bekommt die Inszenierung hingegen fast träumerische Züge. Kristi­na Scheyhing und Jens Kraßnig berüh­ren und verstören als Paar zwischen Zu­neigung und Verletzung: wenn sie ihm erzählt, was sie geträumt hat - dass sie fremdgegangen ist und er vor ihren Au­gen gekreuzigt wurde. Die sieben Darsteller überzeugen mit eindrucksvollem Schauspiel, facetten­reichem Tanz und slapstickhaften Sze­nen. Und dass der Abend trotz seines episodischen Charakters rund ist, ist den vier Regisseuren David Brückel, Henrik Kaalund, Wolfgang A. Piontek und Minako Seki hoch anzurechnen. Ih­­nen gelingt, was sie sich vorgenommen hatten: zu überraschen und zu überzeu­gen.

Neue Presse | 01.11.2010
Wenn Theatergrenzen tanzen
von Evelyn Beyer

Die Commedia Futura zieht in der Eisfabrik aus, das Wundern zu lehren

Ein Handy klingelt im rappelvollen Schwarzen Saal der Eisfabrik, vorwurfsvolle Blicke suchen den Frevler, doch das Klingeln wird lauter, Bühnenlicht, Drehtüren schwingen auf: Da hocken die sieben Darsteller mit heruntergelassenen Hosen im Klositz auf Kisten, lärmen in Handys, ein schrilles Stimmdickicht; dann posen sie zu Selbstporträts. Ein großartiges Bild für die laberige Selbstinszenierungssucht unserer Zeit.  
Die Commedia Futura hat sich wieder auf experimentelle Pfade begeben: ,,Le cadavre exquis -ein Versuch in Wundern" wurde mit heftigem, aber nach drei Stunden erschöpft kurzem Applaus bedacht. ,,Cadavre exquis", zu Deutsch "Vorzügliche Leiche", nannten die Surrealisten eine Technik, Bilder durch Zufall entstehen zu lassen, wie einen Satz, von dem jeder ein Wort schreibt, ohne die anderen zu kennen.
Die Rebellen der freien Theater in den 70ern erprobten derartige Techniken, nun sind sie wieder da, wie Demos, Anti-Atom-Aufkleber und Bürgerinitiativen. Und wie einst erzeugen sie unglaublich authentische Bilder - und schmerzliche Längen.  Intro in der Zentralhalle, die sieben zeigen sich beim Lachen und Weinen, dazwischen rutscht einer in blauer Farbe herum. Umzug in den Schwarzen Saal, wo im Gruppenspiel doch so etwas wie eine Geschichte entsteht, über unsere schöne neue Kommunikationswelt, Single Partys mit Speeddating, über absichtliches Fremdbleiben in der Beziehung, weil jede Nähe das reizvoll Neue zerstört.
Vier Regisseure und Choreografen schufen sensible Paarszenen, klasse chorische Sequenzen, dichte Tanzbilder. Unsere seltsame Welt, die so viel verspricht und in der man sich doch oft so verloren fühlt, sie ist in sinnlichen Bildern gebannt. Um halb elf, nach einer wildsurrealen Traumsequenz über Glück und Qual der Ausschweifung, wäre das Ganze eine runde Sache; doch das Ensemble hat auch Butoh gelernt. Gut zehn Minuten braucht es, um sich in weiße Lendenwickel und orangefarbenen Tüll um die Brust zu werfen; so lange erzählt eine Darstellerin einen Traum, von hinten. Das lullt jede Aufmerksamkeit ein, das malerischdynamische Butoh-Körper-Gewimmel hätte man gern zwei Stunden eher gesehen - oder in einem neuen Stück. Kein Theater-„Wunder", aber schon eine Produktion zum positiven Verwundern.
 

Spielzeit | 03.11.2010
hauskritik
von Janine Klemmt

le cadavre exquis - ein versuch in wundern, commedia futura
  
„Das sind alles meine! Die verleihe ich auch nicht! Die gehören alle mir!“ Während die Schauspielerin einsam auf der Bühne steht und das sagt, hält sie einen Blumenstrauß mit roten Rosen vor ihrer Brust. "Das sind meine Gefühle! Und die gehören nur zu mir!“ Le Cadavre Exquis (Der köstliche Leichnam) ist ein ungewöhnliches Stück, entstanden aus dem Zufall. Die Methode ist einem Kinderspiel entlehnt: Auf einem gefalteten Papier schreiben mehrere Personen hintereinander ein Wort auf, ohne zu wissen, was der Vorgänger geschrieben hat. „Le cadavre exquis boira le vin nouveau“ (Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein) war der Satz, der einst bei den französischen Surrealisten herauskam.
Vier Regisseure haben ihre \/orlieben, Geschichten und ldeen eingebracht: Cadavre Exquis ist eine Collage daraus. „Ich fühl mich blau, weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. lch sag`s dir in - Blau.“ Der Darsteller liegt, während er diese Zeilen singt, in einer großen Pfütze aus blauer Farbe. Kaum hat er die Bühne verlassen, beginnt auch schon die nächste Szene. Der Wechsel ist schnell, die kleinen Szenen beginnen urplötzlich, geschehen am Rande, fließen ineinander über und sind genauso abrupt vorbei.
Den ersten Teil von Le Cadavre Exquis muss man eher wie einen schönen Traum genießen, nicht wie ein Theaterstück mit festen Charakteren und einer geschlossenen Handlung. Nur zum Ende gibt es die längere Geschichte eines jungen Pärchens, angelehnt an Schnitzlers „Traumnovelle“. Überrasch mich!“ und „Berühr mich“, das waren die einzigen Arbeitsmaximen für die Entstehung des Stücks. Und schon während man den Abend in der Commedia Futura genießt, kann man sagen: Es hat funktioniert. Es ist gelungen.
Worum es in dem Stück geht, kann man nicht in einem Satz sagen. „Die eigentliche Geschichte dieses Abends entsteht im Kopf des Zuschauers“, so Wolfgang A. Piontek, Konzeptionist des Werks. Es geht um Emotionen. Um das größte Glücksgefühl im Kontrast zu tiefster Trauer. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und natürlich um Liebe. Sieben Darsteller verkörpem immer neue Charaktere. Mit einem Minimum an Requisiten erschaffen sie in jeder Szene neue Welten, neue Situationen, neue soziale Wirklichkeiten. Das alte Spiel der Surrealisten - in der Commedia.
Plakat:
Le Cadavre Exquis
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